Werner J. Patzelt: Soziale Marktwirtschaft

I.

Die „soziale Marktwirtschaft“ ist der oft gesuchte und häufig übersehene „Dritte Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Sie ist die Alternative sowohl zur reinen Marktwirtschaft als auch zur staatlichen Wirtschaftslenkung. Ihre marktregulierte Preisbildung zeigt Knappheitsprobleme ebenso an wie Überflussprobleme, legt also vernünftige Entscheidungen über Verbrauch und Investitionen nahe. Ihre Ausrichtung auf sozialen Ausgleich und auf Gerechtigkeit stellt das Wirtschaften in den Dienst der Gesellschaft, nicht aber Menschen in den Dienst wirtschaftlicher Verwertungsinteressen.

Allerdings ist sie die Soziale Marktwirtschaft zunächst einmal „regulative Idee“. Sie kann nur dann und solange die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse prägen, wie man sich von ihr wirklich leiten lässt. Außerdem muss man das in dieser Idee angelegte Spannungsverhältnis auch in der Wirklichkeit aushaltenwollen. Das fällt vielen schwer. Die einen lösen das Spannungsverhältnis zwischen Markt und Staat hin zur Marktgläubigkeit auf. Das führt zu vielfältiger Ungerechtigkeit. Die andere lösen es hin zur Staatsgläubigkeit auf, was zu einem sich immer auf immer mehr Ansprüche treffenden und sich bürokratisierenden Sozialstaat führt. Am Ende beider Wege stehen Zweifel, entweder an der Legitimität der Wirtschaftsordnung oder an der Vertrauenswürdigkeit der Staatsordnung. Zu Zweifeln sogar am Wert der Idee selbst führt es, wenn man die Rede von der „Sozialen Marktwirtschaft“ zur Leerformel geraten lässt und nur als rhetorische Floskel benutzt.

 

II.

Es gehört zu den großen Verdiensten von CDU und CSU, in Deutschland die Soziale Marktwirtschaft einst gegen den Widerstand der deutschen Linken durchgesetzt zu haben. Umgekehrt gehört es zu den Versäumnissen der Union, dass man die Idee der Sozialen Marktwirtschaft, längst von der Linken übernommen, teils zu einer grauen Selbstverständlichkeit verblassen ließ, teils ihre Praxis durch staatsgläubigen Interventionismus erschwerte. Deshalb gehört zur Erneuerung der Union auch eine solche Neubesinnung auf die Soziale Marktwirtschaft, die sich nicht nur in der eigenen Rhetorik ausdrückt, sondern auch Gewichtung und Auswahl politischer Gestaltungsinstrumente prägt.

Durchaus ist die „Soziale Marktwirtschaft“ keine Fortschreibung früherer Wirtschaftslehren. Ihr Begriff wurde ohnehin erst 1946 von Alfred Müller-Armack geprägt und erst zwei Jahre später öffentlich verwendet. In der Union war er anfangs umstritten und wurde erst von Ludwig Erhard durchgesetzt. Was genau mit dem vermeintlichen „propagandistischen Schlagwort“ gemeint war, oder wozu es als ernstliches politisches Programm verpflichtet, musste in Auseinandersetzung mit konkreten Gestaltungsaufgaben immer wieder geklärt und ausgehandelt werden. Das ist bis heute so geblieben.

Als neuer wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Ansatz passte die „Soziale Marktwirtschaft“ auch deshalb so gut zu den Unionsparteien, weil auch sie nicht Früheres einfach fortsetzen, sondern Neuschöpfungen aus dem Reformgeist der Nachkriegszeit sind, der seine Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik zog und eine politisch-konzeptuelle Reaktion auf das damals erkennbare Scheitern staatlicher Umgestaltungsprogramme von Wirtschaft und Gesellschaft zog. Jedenfalls war die Idee der „Sozialen Marktwirtschaft“ gut anschlussfähig an alle drei Wurzeln der entstehenden Unionsparteien. Sie ging nämlich aus dem Ordoliberalismus hervor. Der setzte an die Stelle des kapitalistischen laissez-faire-Liberalismus den Gedanken, dass Liberalismus als Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell sich innerhalb eines vom Staat gesetzten und gesicherten Ordnungsrahmens entfalten solle. Das verband die grundsätzliche Bejahung von Liberalismus mit einem Konservatismus, der gerade von den Ordnungsaufgaben des Staates her die Politik betrachtete. Überdies wurde weder die bestandssichernde Ordnungsleistung des Staates noch die fortschrittssichernde Freiheitsleistung des gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Liberalismus jeweils als Zweck an sich betrachtet, sondern jeweils in den Dienst von gesellschaftlicher Wohlfahrt und sozialer Gerechtigkeit gestellt. Das war neu, allen Alternativen überlegen und zukunftsträchtig.

Tatsächlich nutzte die so ausgerichtete Politik die sich der Bundesrepublik bietenden Chancen und machte aus einem stark zerstörten Land zunächst eine der weltweit führenden Wirtschaftsmächte und später das gerade auch aus materiellen Gründen bevorzugte Zielland weltweiter Migrationsbewegungen. Nichts spricht gegen die Vermutung, dass die Verbindung von Markteffizienz und Streben nach sozialem Ausgleich auch fortan gut durch alle Herausforderungen geleiten wird. Deshalb wird es nicht verkehrt sein, die Idee der Sozialen Marktwirtschaft auch künftig zur Richtschnur unserer Wirtschaft- und Sozialpolitik zu machen und ihr entlang, gerade auch in der Auseinandersetzung mit politischen Gegnern, ein erneut klares Profil der Union zu entwickeln.

 

III.

Zu den Grundsätzen der Sozialen Marktwirtschaft gehören ….

  • die Sicherung der Funktionsfähigkeit von Märkten samt der Wertschätzung von Gewinnstreben als Leistungsanreiz
  • der Vorrang von Ordnungspolitik vor interventionistischer Prozesspolitik
  • staatliche Wettbewerbspolitik, die private Marktmacht einschränkt
  • Gewerbe-,Konsum-Vertrags-Berufs- und Koalitionsfreiheit sowohl im Marktgeschehen als auch in der Arbeitswelt
  • Sozialstaatlichkeit, die sowohl auf sozialen Ausgleich und auf soziale Gerechtigkeit als auch darauf ausgeht, die eigene wirtschaftliche und finanzielle Aufrechterhaltbarkeit zu gewährleisten.

Ferner zeigt sich immer mehr, dass der Ordnungsrahmen eines Nationalstaates die beste Voraussetzung dafür ist, dass Sozialstaatlichkeit als Korrektiv grenzüberschreitenden Wirtschaftsgeschehens gelingt. Mit der Einbettung Deutschlands in die Europäische Union samt deren Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit ist Nationalstaatlichkeit als Vorbedingung nachhaltiger Sozialstaatlichkeit gerade noch zu vereinbaren. Doch nicht mehr gilt das für eine EU, die sowohl auf eine wirksame Regulierung der Zuwanderung auf ihr Gebiet verzichtet als auch keine effektiven Abschiebungsmaßnahmen unternimmt.

Auch darf die zur Sozialen Marktwirtschaft gehörende Sozialstaatlichkeit nicht bei ins Gewicht fallenden Bevölkerungsgruppen die Anreize dafür mindern, durch eigene Teilnahme am Wirtschaftsleben die materiellen Voraussetzungen für das Fortbestehen eines daseinsentlastenden Sozialstaates zu reproduzieren. Soziale Marktwirtschaft büßt nämlich den Glauben an die von ihr in Aussicht gestellte Gerechtigkeit ein, wenn immer mehr Leute zum folgenden Urteil kommen: Wir sichern durch die oft mühsame Teilnahme am Wirtschaftsgeschehen den Lebensunterhalt von sehr vielen anderen, die sich selbst ohne Not von der Pflicht fernhalten, den gemeinsamen Sozialstaat mitzufinanzieren. Soziale Marktwirtschaft misslingt jedenfalls, wenn Politik mehr auf das befriedende Soziale achtet als auf jene Wirtschaft, die überhaupt erst die Mittel für Sozialpolitik aufzubringen erlaubt.